Passau. Der in Künzing (Lkr. Deggendorf) lebende Thomas Erndl ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Dort sitzt der CSU-Politiker als stellvertretender Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss, zudem ist er Sprecher der CSU für Internationales und Sicherheit. Wir haben uns mit ihm zu sicherheitspolitischen Themen unterhalten.
Wie groß ist denn der außenpolitische Schaden bei der Taurus-Abhöraffäre?
Thomas Erndl: Der außenpolitische Schaden ist in zweierlei Hinsicht groß. Es ist peinlich für die Bundeswehrführung, dass sie zu wichtigen, brisanten Themen auf nicht abgesicherten Kanälen kommuniziert. Das trägt nicht zum Bild eines verlässlichen Partners bei, weil es auch um die Vorgehensweise unserer Partner in Großbritannien ging. Der Schaden auf politischer Ebene ist, dass Bundeskanzler Scholz einer Unwahrheit überführt ist. Selbst die Experten der Bundeswehr sagen, dass man Taurus liefern kann und die Ukrainer befähigt werden können, ohne deutsche Soldaten in die Ukraine zu schicken. Deshalb würde ich gerne wissen, wie frei der Kanzler in seinen Entscheidungen ist. Drohungen der Russen dürfen sich nicht auf unser Handeln auswirken.
Welche Konsequenzen muss es geben?
Erndl: Die besten technischen Möglichkeiten helfen nichts, wenn sie nicht angewendet werden. Da muss das Bewusstsein auf allen Ebenen massiv nachgeschärft werden. Aber man darf jetzt nicht Putin in die Falle gehen und unsere Luftwaffenführung schwächen. Ich vertraue dem Verteidigungsminister, dass er jetzt weiter mit Besonnenheit reagiert.
Hätte man nicht schon längst dafür Sorge tragen müssen, dass solche Dinge nicht passieren?
Erndl: Ganz vermeiden wird man es wahrscheinlich nicht können. Wir haben die technischen Mittel, auch die Vorgaben und Vorschriften. Ein bisschen ist das Ganze auch sinnbildlich für die Mentalität, in der wir in diesen Tagen unterwegs sind. Nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch in der Politik. Wir werden durch Russland auf verschiedenste Art und Weise attackiert: Propaganda, Desinformation, Cyberangriffe oder die Ermordung von in Putins Augen „unbequemen“ Menschen auch hier in Deutschland, wie beim Tiergartenmord. Das müssen wir endlich einmal in unsere Köpfe bekommen, damit wir auch entsprechend handeln. Bei der ukrainischen Unterstützung haben wir zwei Jahre verschlafen, unsere Munitionsproduktion nicht schlagkräftig gesteigert, nirgends Produktionskapazitäten erweitert. Wir glauben immer noch, dass der Krieg viel zu weit weg ist, wir die Ukraine seit zwei Jahren einigermaßen gut unterstützen – aber uns selbst betrifft das gar nicht so. Jetzt zeigt sich, dass wir schnellstens diese Mentalität verändern und in einen Modus kommen müssen, wo wir diesen Krieg wirklich ernst nehmen, auch als Gefahr für uns und Europa.
Es gibt das Sondervermögen für die Bundeswehr. Reichen die 100 Milliarden Euro?
Erndl: Das reicht hinten und vorne nicht, das war zu kurz gesprungen. Bei Corona war immer die Motivation, möglichst groß zu denken, damit man den Schaden für die Wirtschaft nicht zu groß werden lässt. Da haben wir in 200-Milliarden-Schritten gedacht. Diese Größenordnung wäre beim Sondervermögen Bundeswehr auch richtig gewesen.
Also noch mehr Geld in die Hand nehmen?
Erndl: Ich bin ein Verteidiger der Schuldenbremse. Wir müssen sicherstellen, dass wir nachhaltig wirtschaften. Aber beim Thema Sicherheit haben wir keine Zeit mehr, und deswegen wäre mein Vorschlag, dass die allgemeine Schuldenbremse weiter Bestand haben muss und wir das Thema Sicherheit über eine Aufstockung des Sondervermögens adressieren. Eine Größenordnung auf 300 Milliarden ist notwendig. Den Betrag brauchen wir, um die Bundeswehr insgesamt zu modernisieren. Das muss verbunden werden mit einem konkreten Plan, über vielleicht acht bis zehn Jahre den Verteidigungshaushalt anwachsen zu lassen, so dass wir dann auch wirklich die mindestens zwei Prozent über den regulären Etat erreichen.
Muss man angesichts der Bedrohungssituation über die Wiedereinführung der Wehrpflicht nachdenken?
Erndl: Wir haben eine leistungsfähige Armee, die aber an vielen Stellen eine modernisierte Ausrüstung benötigt. Zu einer funktionsfähigen und schlagkräftigen Armee gehört auch eine funktionsfähige und von der Anzahl her leistungsfähige Reserve. Wenn man das in den Blick nimmt, dann kommt man eigentlich nur zu einem Ansatz, der Wehrpflicht heißt.
Was wäre Ihre Vorstellung?
Erndl: Vielleicht hilft in einem allerersten Schritt das schwedische Modell der Musterung, um noch mal verstärkt Werbung für den freiwilligen Dienst zu machen. Wenn wir da nicht mehr Leute rekrutieren können, müssen wir uns in einem zweiten Schritt ernsthaft Gedanken um die Wiedereinführung der Wehrpflicht machen, damit wir auch die Wehrhaftigkeit, die wir als Gesellschaft dringend benötigen, auch durch volle Besetzung bei der Bundeswehr und bei den Reservisten abdecken können.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will den Atomschirm über Europa aufspannen. Sollte Deutschland darunterschlüpfen?
Erndl: Die Franzosen haben oft hehre Ziele, aber verbunden mit eigenen Interessen. Bei der atomaren Abschreckung in Europa ist es wichtig, dass wir auf die bestehenden Strukturen setzen, und die heißen: die Amerikaner sind die Hauptträger dieser Abschreckungssäule. Dann gibt es die nukleare Teilhabe. Interessant ist, dass jetzt ausgerechnet die SPD Vorschläge zur europäischen nuklearen Abschreckung macht, also die Partei, die bis vor zwei Jahren noch die nukleare Teilhabe aktiv sabotiert hat. Wir müssen versuchen, dass wir uns in diesem bestehenden Korsett bewegen und die Amerikaner vor allem nicht aus der Verantwortung lassen und ihnen auch keinen Vorwand liefern, sich jetzt aus Europa zurückzuziehen.
Wie ist es um eine europäische Sicherheitsstruktur bestellt?
Erndl: Da gibt es Licht und Schatten. Es gibt gute Ansätze, wie gemeinsame Beschaffungsprojekte oder gemeinsame Forschung. Aber insgesamt müssen wir da noch wesentlich besser werden. Weniger nationale Sonderwünsche, sondern mehr Einheitlichkeit. Beispiel Kampfpanzer: Warum haben die Polen ein koreanisches Modell? Da hat die europäische, auch die deutsche Politik versagt, weil man die Polen nicht überzeugen konnte, auf den Leopard zu setzen. Das wäre militärisch und industriepolitisch sinnvoll. Wir sollten diese Fehler bei der zukünftigen Ausrüstung der Ukraine nicht wiederholen. Wir geben gar nicht so wenig Geld in Europa für Verteidigung aus. Aber hinten kommt nicht genügend raus.
Sollten wir jetzt Taurus liefern oder nicht?
Erndl: Man darf kein Waffensystem zur Wunderwaffe erklären. Das haben wir auch nie gemacht. Jedes Waffensystem ist aber ein Mosaikstein, der notwendig ist, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Da gehört Taurus unbedingt dazu. Und es ist völlig klar, dass Deutschland weder mit Taurus noch mit anderen Lieferungen zur Kriegspartei wird. Ich lehne diese Angstmacherei des Kanzlers entschieden ab. Wen Putin als Kriegspartei sieht, das haben wir nicht in der Hand. In seinen Reden spricht er von Krieg gegen den Westen, da dürfen wir uns aber nicht beeindrucken lassen. Für uns muss zählen, dass sich das Recht des Stärkeren nicht durchsetzen darf. Sonst blicken wir in keine friedliche Zukunft. Für die Ukrainer ist ganz schwierig zu sehen, dass ihnen aus fadenscheinigen Gründen wichtige Unterstützung vorenthalten wird. Taurus ist wichtig zur Bekämpfung von Munitionslager und Nachschubwegen im rückwärtigen Bereich, aber am Schluss auch für die Kertschbrücke auf der Krim, das muss man auch offen und ehrlich sagen.
Ist Bundeskanzler Olaf Scholz da ehrlich?
Erndl: Eben nicht. Nicht nur jetzt bei den vorgeschobenen Argumenten, bei Taurus müssten immer Bundeswehrsoldaten involviert sein, sondern auch bei der grundsätzlichen Frage nach den Zielen der Ukraine. Wenn der Kanzler nicht will, dass tatsächlich diese Brücke zerstört wird oder dass Druck auf die Krim oder auf die russisch besetzten Gebiete entsteht, so dass es für die Russen auch zwingend einmal rückwärts geht, dann muss Scholz erklären, was eigentlich sein Ziel, seine Strategie für die Ukraine ist. Wenn sein Ziel nicht die Befreiung der Territorien ist, dann passt die ganze Politik nicht zu dem, was der Rest Europas als Ziel aufruft. Diesen Widerspruch muss der Kanzler endlich einmal auflösen!
Das Interview führten Ernst Fuchs und Stefan Rammer PNP
Foto: Stefan Rammer PNP